"Negro Spiritual" Darbietungen der Chorale Saint-Michel ( Tageblatt vom 8. November 1983)
Zu den „Negro Spiritual"-Darbietungen der Chorale St-Michel
Zum Beispiel Chorgesang
Die Darbietungen unserer einheimischen Chöre sind seltener geworden. Eine lange Tradition scheint auszusterben. Nachwuchs für die Chöre fehlt: Wir sind zu bequem geworden. Die Unterhaltungsindustrie treibt uns zum Konsum und hält uns von eigenen Aktivitäten ab.
Auch der St.-Michaels-Chor hat Nachwuchsprobleme. So scheint es jedenfalls, nach den Worten des Sekretärs. Er machte einen Aufruf in luxemburgischer und französischer Sprache an alle Zuhörer, doch in den Kreis der Mitwirkenden einzutreten.
Die Darbietung von Negro Spirituals durch dieses Ensemble am vergangenen Sonntag ließ allerdings nicht auf solche Probleme schließen. Sie gehörte zu den eindrucksvollsten, die ich seit langem von einem einheimischen Chor gehört habe. Die einzelnen Register sind sehr gut besetzt; die Männerstimmen fallen für einmal nicht ab. Phrasierung und Atemtechnik sind gekonnt. Der Klangvolumen ist reich, bleibt aber immer transparent.
Schon von dieses Seite her war er eine große Leistung, die interpretatorisch noch überboten wurde.
Gerry Welter, als Chorleiter, hat mustergültige Probenarbeit geleistet: da gibt es kein Zögern mehr bei den Einsätzen der Stimmen, da gibt es kein Schwanken mehr in der Verwirklichung der sehr differenzierten Rhythmen. Mehr noch: da gibt es ein Verständnis für Gehalt und Ausdrucksweise der Spirituals, die man nur sehr selten erleben kann!
Spirituals verlangen eine besondere Art des Vortrags: gleichzeitig spontan und expressiv, sehr dem Textgehalt verhaftet in ihrer Rhythmik und dem Improvisatorischen, was ihnen eigen bleibt, sind sie vor allem Ausdruck eines Lebensgefühls, stärker noch als der eines Glaubensbewußtseins, oder vielmehr: der Glauben der geknechteten Sklaven bedingte ihre Lebenshaltung. Diese ist bestimmt von der Überzeugung, daß der Mensch den Sieg über den Tod, über das Leid und die Unterdrückung erringt. Das „Gelobte Land“ liegt genau gegenüber, jenseits des Jordans! So ist denn auch auffallend, daß man kaum ein Spiritual findet, das Haß- oder Rachegefühle ausdrückt. Allerdings bedingt dieses Hoffen auf das „Gelobte Land“ auch, daß die Schwarzen in Amerika zu lange ihre Unterdrückung hingenommen haben, Trost und Hoffnung nicht im Kampf gegen diese Unterdrückung gesucht, sondern in der Erwartung der „Erlösung“ gefunden haben.
Der Chor von Saint-Michel darf als seine größte Leistung ansehen, daß es ihm gelungen ist, einer weitverbreiteten Meinung zu widersprechen —oder sollte man sagen: zu widersingen? — daß es nur Farbigen möglich ist, Spirituals zu singen. In punkto Farbigkeit, rhythmischer Flexibilität und Expressivität ließ er nichts zu wünschen übrig. Sehr gut gefielen mir auch die Sopran- und Baritonsoli (reine, ausdruckskräftige Stimmen!) und die persönliche Improvisation von Gerry Welter in „Go Down Moses“. Die diskrete Orgelbegleitung in mehreren Spirituals war eindrucksvoll, weil sie eben diskret war. Nicht so überzeugt war ich von einigen Arrangements — etwa zu: „Mary Don't You Weep“, „Wade in de Water“, „Swing Low, Sweet Chariot“ — weil sie zu recherchiert sind und den Liedern ihre spontane Expressivität nehmen, auch wenn durch diese Arrangements eindrucksvolle Choreffekte erreicht werden können.
Sehr gut gefiel mir, daß das Konzert eine geschickte Mischung zwischen berühmten und fast unbekannten Spirituals herstellte und so auch noch ein didaktisches Ziel verwirklichte.
Natürlich waren nicht alle Darbietungen gleich gut, dennoch ist die Leistung des Chores bewundernswert. Sie ist das Ergebnis zahlreicher Proben und intensiver Probenarbeit. Diese hat sich ausgezahlt: „Amen“ oder „Joshua Fit de Battle of Jericho“ oder „Poor Homeless Stranger“ gehören zu den glanzvollsten Chordarbietungen der letzten Zeit hierzulande. Es gibt also doch noch einige gute Chöre. Die Chorale St-Michel gehört zu den besten.
guy wagner